Die Frage nach dem Sinn des Lebens begegnet uns Psychotherapeut:innen in der Regel nicht als spannendes philosophisches Gedankenspiel, sondern als Ausdruck tiefen Leidens bei Patient:innen, die auf existenzielle Fragen keine befriedigenden Antworten finden. Diese Fragen bringen sie mit in den Therapieraum – und erhoffen sich möglichst konkrete und hilfreiche therapeutische Antworten.
Oft wird die Auseinandersetzung mit existenziellen Themen durch private Schicksalsschläge in Gang gebracht – z.B. durch die Konfrontation mit einer Krankheit oder einschneidende Veränderung von Lebensumständen. Aber auch die vielfältigen Krisen unserer Zeit – von der Klimakrise über Kriege bis hin zu erstarkenden rechtspopulistischen Tendenzen – werfen existenzielle Fragen auf: Worauf läuft unsere Art zu leben langfristig hinaus? Was ist meine persönliche Rolle innerhalb dieser Menschheitskrisen?
Psychotherapeut:innen müssen das Sinnthema anders angehen als Philosoph:innen oder Forscher:innen. Die Person im Therapiesessel gegenüber stellt sich existenzielle Fragen selten aus philosophischer Neugier, sondern häufiger unfreiwillig und mit großem Leidensdruck. Die Schweizer Psychoanalytikerin Dr. Alice Holzhey-Kunz beschreibt Menschen in Sinnkrisen als „Philosophen wider Willen“. Unabhängig davon, ob man sich für Philosophie interessiert oder nicht – man wird früher oder später mit existenziellen Fragestellungen konfrontiert: Was für ein Mensch möchte ich sein? Wie finde ich Orientierung in einer chaotischen Welt? Wie kann ich in einer oft ohnmächtig machenden Welt ein Gefühl von Wirksamkeit entwickeln? Welche von den vielen Entscheidungsoptionen in einer pluralistischen Gesellschaft ist die für mich stimmige? Wie finde ich Sinn in einer Welt, die mir diesen nicht auf dem Silbertablett serviert?
Therapeut:innen, die nach Handreichungen für an Sinnfragen leidenden Menschen suchen, werden nicht nur innerhalb der Philosophie (und hier insbesondere der Existenzphilosophie) fündig. Auch in ihrem eigenen Feld können Schätze ans Licht gebracht werden. Einerseits kann man in der „Existenziellen Psychotherapie“ Hilfreiches entdecken: In einer Therapieschule, die sich seit fast einem Jahrhundert jenseits des therapeutischen Mainstreams mit existenziellen Fragen beschäftigt. Bekannte Vertreter sind Viktor Frankl und Irvin Yalom. Andererseits finden sich wertvolle Impulse in der empirischen Sinnforschung sowie in bestimmten Bereichen der Sozialpsychologie. Mit meinem psychotherapeutischen Kollegen Sven Hanning, mit dem ich schon mehrere Bücher zur Behandlung von Selbstwertproblemen verfasst habe, arbeite ich aktuell an einem therapeutischen Handbuch zu Sinnfragen in der Psychotherapie und halte Workshops zu diesem Thema.
Die Psychotherapie erweist sich dabei als durchaus geeigneter Ort, um sich mit Sinnfragen auseinanderzusetzen. Sie bietet etwas, das viele andere Anlaufstellen vermissen lassen: Die Offenheit für ganz unterschiedliche Antworten auf existenzielle Fragen - ohne Missionierungsabsichten. Psychotherapeuten unterstützen Menschen, selbstbestimmt einen eigenen Weg zu finden, statt ihnen vorgefertigten Antworten aufzudrängen.
Viktor Frankl hat ein treffendes Bild für die Suche nach Sinn gefunden: Er betont, dass es wenig hilfreich sei, einen Schach-Großmeister zu fragen, was der richtige Schachzug sei. Viel lohnender sei es, nach dem geeignetsten Zug für eine ganz bestimmte Konstellation der Figuren zu suchen. Diese Metapher verdeutlicht, dass es nicht um eine allgemeingültige, zeitlose Antwort geht, sondern um den jeweils passenden Schritt im individuellen Kontext.
Ganz im Sinne von Frankl scheint mir im psychotherapeutischen Kontext die konstruktivste Haltung zu sein, nicht so sehr nach dem Sinn des Lebens zu suchen, sondern vielmehr nach Sinn im Leben. Gemeinsam mit meinen Patient:innen mache ich mich auf die Suche nach möglichen individuellen Sinngebungen in konkreten Lebenssituationen. Hierbei steht die subjektive Sinnerfüllung im Hier und Jetzt im Vordergrund, nicht ein universeller, für alle Menschen gleichermaßen geltender „kosmischer“ Sinn.
Über Gastautor Dr. Fabian Chmielewski
Dr. Fabian Chmielewski ist Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut (KVT). In seiner Privatpraxis in Hattingen bietet er Psychotherapie, Beratung und Supervision an. Als Selbsterfahrungsleiter und Supervisor unterstützt er die Ausbildung angehender Psychotherapeut*innen, u.a. in den Studiengängen der Universitäten Bochum und Düsseldorf. Er ist Autor von Büchern und Fachartikeln zur Selbstwerttherapie (selbstwerttherapie.de), zu existenziellen Fragestellungen in der Psychotherapie (SinnImLeben.de) und zu psychologischen Aspekten gesellschaftlicher Themen (Eupsychia.de). Er promovierte zum Thema „Existenzielle Faktoren in der Kognitiven Verhaltenstherapie“. 2023 veröffentlichte er sein neuestes Buch: „Globale Krisen in der Psychotherapie“ im Beltz-Verlag. Aktuell arbeitet er gemeinsam mit seinem Kollegen Sven Hanning an den „Therapie-Tools Sinn“. Als Dozent hält er zahlreiche Vorträge und Workshops zu diesen Themengebieten.